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Eine Geschichte von Selma Lagerlöf, der heutigen Sprache angepasst von Peter Bödeker

Eine Räubermutter, welche in einer Räuberhöhle oben im bergigen Göinger Wald im Norden von Dänemark hauste, hatte sich eines Tages auf einen Bettelzug in das Flachland hinunter begeben. Der Räubervater selbst war ein ausgestoßener Mann und durfte den Wald nicht verlassen, sondern musste sich damit begnügen, den Wegfahrenden aufzulauern, die sich trotz der Gefahr in den Wald wagten.

Doch zu der Zeit, als der Räubervater und die Räubermutter ihr Leben in dem Göinger Wald fristeten, gab es im nördlichen Schonen nicht allzu viel Reisende. Wenn es sich also begab, dass der Räubervater ein paar Wochen lang Pech bei seiner Jagd hatte, dann machte sich die Räubermutter auf ihre Wanderschaft. Sie nahm ihre fünf Kinder mit, und jedes der Kleinen hatte zerlumpte Fellkleider und Holzschuhe an und trug auf dem Rücken einen Sack, der gerade so lang war wie das Kind selbst. Diesmal jedoch sollte die Reise das Leben der Räuberfamilie für alle Zeit verändern.

Die Legende von der Christrose

MönchWenn die Räubermutter zu einer Haustür herein kam, dann wagte niemand, ihr das zu verweigern, was sie verlangte, denn bekanntermaßen kehrte die Räubermutter in der nächsten Nacht zurück und zündete das Haus an, in dem ihr freundliche Aufnahme verweigert worden war. Ja, die Räubermutter und ihre Nachkommenschaft waren ärger als die Wolfsbrut, und gar manch einer empfand Lust, ihnen seinen guten Speer nachzuwerfen. Aber dies geschah niemals. Denn man wusste, dass ihr Mann dort oben im Walde hauste und sich zu rächen wissen würde, wenn den Kindern oder der Alten etwas zuleide geschähe.

Wie nun die Räubermutter so von Hof zu Hof zog und bettelte, kam sie eines sonnigen Tages nach Öved, das zu damaliger Zeit ein Kloster war. Sie klingelte an der Klosterpforte und verlangte etwas zu essen. Der Türhüter ließ ein kleines Schiebfensterchen herab und reichte ihr sechs runde Brote, eines für die Mutter und eines für jedes Kind.

Aber während die Räubermutter so abwartend vor der Klosterpforte stand, liefen ihre Kinder umher. Und nun kam eines von ihnen heran und zupfte sie am Rocke. Es hatte etwas gefunden, das sie sich ansehen sollte. Die Räubermutter ging gleich mit ihm.

Der Lustgarten des Abtes

Das ganze Kloster war von einer hohen, starken Mauer umgeben, aber der kleine Räuberjunge hatte es zustande gebracht, ein Hintertürchen zu finden, das bloß angelehnt stand. Als die Räubermutter dort ankam, stieß sie sogleich das Pförtchen auf und trat, ohne erst viel zu fragen, ein, wie eben bei ihr so Brauch war.

Doch das Kloster Öved wurde zu jener Zeit von Abt Johannes geführt, der ein gar pflanzenkundiger Mann war. Er hatte sich hinter der Klostermauer einen kleinen Park angelegt. In diesen drang die Räubermutter nun ein.

Im ersten Augenblick war sie so erstaunt, dass sie regungslos stehenblieb. Es war Hochsommer und der Garten des Abtes stand so voll von Blumen, dass es einem blau und rot und gelb vor Augen flimmerte, wenn man zur Pflanzenpracht hinsah. Aber bald zeigte sich ein vergnügtes Lächeln auf dem Gesicht der Räubermutter und sie begann, einen schmalen Gang hinunter zu gehen, der zwischen den vielen kleinen Blumenbeeten durchlief.

Mönch im Garten

Im Garten nun stand ein Laienbruder, der Gärtnergehilfe war, und jätete das Unkraut. Er war es, der die Hintertür in der Mauer halb offen gelassen hatte, um Queckengras und Melde auf den Kehrrichthaufen davor werfen zu können. Als er die Räubermutter mit ihren fünf Bälgern hinter sich her in den Lustgarten treten sah, stürzte er ihnen sogleich entgegen und befahl ihnen, sich zu trollen. Aber die alte Bettlerin ging weiter, als sei nichts geschehen. Sie ließ ihren Blick hinauf und hinab wandern, sah bald die starren weißen Lilien an, die sich auf einem Beet ausbreiteten, und bald den Efeu, der die Klosterwand emporkletterte, und bekümmerte sich dabei nicht im Geringsten um den Laienbruder.

Der Laienbruder dachte, die Räubermutter hätte ihn nicht verstanden. Da wollte er sie am Arm fassen, um sie nach dem Ausgang umzudrehen. Aber als die Räubermutter seine Absicht erkannte, warf sie ihm einen Blick zu, vor dem er zurückprallte. Sie war aufgrund der schweren Last ihres Bettelsackes auf dem Rücken gebeugt gegangen. Doch jetzt richtete sie sich zu ihrer vollen Höhe auf.

"Ich bin die Räubermutter aus dem Göinger Wald", sagte sie, "rühr mich nur an, wenn du es wagst." Und es sah aus, als ob sie nach diesen Worten ebenso sicher wäre, in Frieden von dannen zu ziehen, als hätte sie verkündet, dass sie die Königin von Dänemark sei.

Aber der Laienbruder wagte es dennoch, sie noch einmal aufzufordern, obgleich er nun wusste, wer sie war. Jedoch gab er seiner Stimme einen sanftmütigen Klang: "Du musst wissen, Räubermutter", sagte er, "dies ist ein Mönchskloster. Keiner Frau im Lande ist es gestattet, hinter unsere Mauern zu kommen. Wenn du nicht deiner Wege ziehst, dann werden die anderen Mönche mir zürnen, weil ich vergessen habe, die Hintertür zu schließen. Sie werden mich vielleicht sogar aus Kloster und Garten verjagen."

Doch derartiges Bitten war an die Räubermutter verschwendet. Die ging weiter unbeirrt durch die Rosenbeete und guckte sich den Ysop an, der mit lilafarbenen Blüten bedeckt war, und das Kaprifolinum, das voll rotgelber Blumentrauben hing.

Da wusste sich der Laienbruder keinen anderen Rat mehr, als in das Kloster zu laufen, um nach Hilfe zu rufen.

Er kam mit zwei handfesten Mönchen zurück. Die Räubermutter sah sogleich, dass es nun ernst wurde. Sie stellte sich breitbeinig in den Weg und begann mit gellender Stimme herauszuschreien, welche furchtbare Rache sie an dem Kloster nehmen würde, wenn sie nicht im Lustgarten bleiben dürfte, solange sie wolle. Aber die Mönche meinten, dass sie die Räubermutter nicht zu fürchten brauchten und sie dachten nur daran, diese zu vertreiben. Da stieß die Räubermutter schrille Schreie aus, stürzte sich auf sie und kratzte und biss und ebenso machten es ihre Sprösslinge.

Die drei Männer merkten bald, dass sie ihnen überlegen war. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als in das Kloster zu gehen, um weitere Verstärkung zu holen.

Der geheime Garten

Wie sie über den Pfad liefen, der in das Kloster führte, begegneten sie dem Abt Johannes, der herbeigeeilt war, um zu sehen, was für ein Lärm das wäre, den man vom Lustgarten hörte. Da mussten die Mönche ihm gestehen, dass die Räubermutter aus dem Göinger Wald in das Kloster gedrungen war. Sie hätten nicht vermocht, diese wieder zu vertreiben und wollten sich nun zusätzliche Mönche zu Unterstützung holen.

Doch Abt Johannes tadelte sie, dass sie Gewalt angewendet hätten, und verbot ihnen, weitere Hilfe zu holen. Er schickte stattdessen die beiden Mönche zu ihrer Arbeit zurück, und obwohl er ein alter, gebrechlicher Mann war, nahm er nur den Laienbruder mit auf seinem Weg zur Räubermutter.

Als Abt Johannes im Garten angelangte, ging die Räubermutter wie zuvor zwischen den Beeten umher. Und er konnte sich nicht genug über sie wundern. Der Abt war sich sicher, dass die Räubermutter nie zuvor in ihrem Leben einen Lustgarten erblickt hätte. Aber wie dem auch sein mochte - sie ging zwischen all den kleinen Beeten umher, die jedes mit einer anderen Art fremder und seltsamer Blumen bepflanzt waren. Die Räubermutter betrachtete die Gewächse, als wären es alte Bekannte. Es sah so aus, als hätte sie schon öfters Immergrün, Salbei und Rosmarin gesehen. Einigen Pflanzen und Kräutern lächelte sie zu, über andere wieder schüttelte sie den Kopf.

Abt Johannes liebte seinen Garten mehr als alle anderen Dinge, die irdisch und vergänglich sind. So wild und grimmig die Räubermutter auch ausschaute, so konnte er es doch nicht lassen, Gefallen an dem Umstand zu finden, dass sie mit drei Mönchen gerungen hatte, um den Garten in Ruhe betrachten zu können. Er ging auf sie zu und fragte freundlich, ob ihr der Garten gefalle.

Die Räubermutter wendete sich heftig gegen Abt Johannes, denn sie war nur auf Hinterhalt und Überfall gefasst. Aber als sie dessen weiße Haare und den gebeugten Rücken sah, da antwortete sie ganz freundlich: "Als ich ihn zuerst erblickte, da schien es mir, als ob ich nie etwas Schöneres gesehen hätte, aber jetzt merke ich, dass er sich nicht mit einem anderen messen kann, den ich kenne."

Der Abt hatte sicherlich eine andere Antwort erwartet. Als er hörte, dass die Räubermutter einen anderen Lustgarten kenne, der schöner wäre als der Seine, bedeckten sich seine runzligen Wangen mit einer schwachen Röte.

Der Gärtnergehilfe, der weiterhin danebenstand, begann auch sogleich, die Räubermutter zurechtzuweisen: "Dies ist Abt Johannes, Räubermutter", sagte er, "der selber mit großem Fleiß und viel Mühe von nah und fern die Blumen für diesen Garten gesammelt hat. Wir wissen alle, dass es im ganzen schonischen Land keinen reicheren Lustgarten gibt. Es steht dir, der du das ganze Jahr im wilden Walde hausest, wahrlich übel an, sein Werk meistern zu wollen."

Gewölbegang

"Ich will niemanden meistern, weder ihn noch dich", sagte die Räubermutter, "ich sage nur, wenn ihr den Lustgarten sehen könntet, an den ich denke, dann würdet ihr jegliche Blume, die hier steht, ausreißen und sie als Unkraut fortwerfen."

Der Gärtnergehilfe war kaum weniger stolz auf die Pflanzenpracht als Abt Johannes selbst. Als er diese Worte vernahm, begann er höhnisch zu lachen. "Ich kann mir wohl denken, dass du nur so schwätzest, Räubermutter, um uns zu reizen", sagte er, "das will mir ein schöner Garten sein, den du dir unter Tannen und Wacholderbüschen im Göinger Wald eingerichtet hast! Ich wollte meine Seele verwetten, dass du überhaupt noch nie hinter einer Gartenmauer gewesen bist!"

Die Räubermutter wurde rot vor Ärger, dass man ihr also misstraute, und sie rief: "Es mag wohl sein, dass ich niemals vor heute hinter einer Gartenmauer gestanden habe, aber ihr Mönche, die ihr heilige Männer seid, solltet wohl wissen, dass der große Göinger Wald sich in jeder Weihnachtsnacht in einen Lustgarten verwandelt, um die Geburtsstunde unseres Herrn und Heilands zu feiern. Wir, die wir im Walde leben, haben dies nun jedes Jahr geschehen sehen, und in diesem Lustgarten habe ich so herrliche Blumen geschaut, dass ich es nicht wagte, die Hand zu erheben, um sie zu brechen."

Da lachte der Laienbruder noch lauter und sagte: "Es ist gar leicht für dich, dazustehen und mit derlei zu prahlen, was kein Mensch sehen kann. Aber ich kann es nicht glauben, es könne etwas anderes als eine Lüge sein, dass der Wald Christi Geburtsstunde an einer solchen Stelle feiern solle, wo derart unheilige Leute hausen, wie du und dein Räubermann."

"Und das, was ich euch sagte, ist dennoch die Wahrheit", entgegnete die Räubermutter, "wie auch die Tatsache, dass du es nicht wagen würdest, in einer Weihnachtsnacht in den Wald zu kommen, um es zu sehen."

Die Vereinbarung

Der Laienbruder wollte ihr von Neuem antworten, aber der Abt Johannes deutete ihm durch ein Zeichen, nun still zu schweigen. Denn Abt Johannes hatte einst in seiner Kindheit erzählen hören, dass der Wald sich in der Weihnachtsnacht in ein Feierkleid hülle. Er hatte sich oft danach gesehnt, es einmal zu sehen, aber es war ihm niemals gelungen. Darum begann er, die Räubermutter gar eifrig zu bitten und anzurufen, sie möge ihn um die Weihnachtszeit in die Räuberhöhle kommen lassen. Wenn sie nur eines ihrer Kinder um diese Zeit zu ihm schicke, ihm den Weg dorthin zu weisen, dann wolle er alleine hinaufreiten. Er würde sie nie und nimmer verraten, sondern sie im Gegenteil so reich belohnen, wie es nur in seiner Macht stünde.

Die Räubermutter weigerte sich zunächst, denn sie dachte an den Räubervater und an die Gefahr, der sie ihn preisgab, wenn sie Abt Johannes in ihre Höhle kommen ließe; aber dann wurde doch der Wunsch, ihm zu zeigen, dass der Lustgarten, den sie kannte, schöner sei als der seinige, in ihr übermächtig, und sie gab nach.

"Aber mehr als einen Begleiter darfst du nicht mitnehmen", sagte sie. "Und du darfst uns keinen Hinterhalt und keine Falle stellen, so gewiss du ein heiliger Mann bist."

Dies versprach der Abt und damit ging die Räubermutter.

***

Beim Bischof

Abt Johannes befahl dem Laienbruder, niemanden zu verraten, was vereinbart worden war. Der Abt fürchtete, dass seine Mönche, wenn sie etwas von seinem Vorhaben erführen, einem alten Mann, wie er es nun einmal war, nicht gestatten würden, hinauf in den Wald in eine Räuberhöhle zu reisen.

Auch er selbst wollte den Plan keiner Menschenseele verraten. Ab da begab es sich, dass Erzbischof Absolon aus Lund gereist kam und eine Nacht in Öved verbrachte. Als nun Abt Johannes ihm seinen Garten zeigte, fiel ihm der Besuch der Räubermutter ein; und der Laienbruder, der dort umherging und arbeitete, hörte, wie sein Abt dem Bischof vom Räubervater erzählte, der nun schon so viele Jahre vogelfrei im Walde gehaust hätte, und um einen Freibrief für ihn bat, damit er wieder ein ehrliches Leben unter anderen Menschen führen könne.

"Nach momentanem Stand", sagte der Abt Johannes, "wachsen seine Kinder zu ärgeren Missetätern heran, als er selbst einer ist, und wir werden es dort oben im Walde bald mit einer ganzen Räuberbande zu tun bekommen."

Doch Erzbischof Absalon erwiderte, dass er den bösen Räuber nicht auf seine ehrlichen Leute im Lande loslassen wolle. Es sei seiner Meinung nach für alle am besten, wenn er dort oben im Wald hausen bliebe.

Da brach Abt Johannes sein Schweigen und begann, dem Bischof vom Göinger Wald zu erzählen, der sich jedes Jahr rings um die Räuberhöhle in Weihnachtsschmuck kleide. Er schloss mit den Worten: "Wenn diese Räuber nicht schlimmer sind, als dass Gottes Herrlichkeit sich ihnen zeigen will, so können sie wohl auch nicht zu schlecht sein, um die Gnade der Menschen zu erfahren."

Aber der Erzbischof wusste Abt Johannes zu antworten: "So viel kann ich dir versprechen, Abt Johannes", sagte er und lächelte, "an welchem Tage immer du mir eine Blume aus dem Weihnachtsgarten im Göinger Walde schickst, will ich dir einen Freibrief für alle Friedlosen geben, für die du mich bitten magst."

Der Laienbruder erkannte, dass Bischof Absalon ebenso wenig wie er an die Geschichte der Räubermutter glaubte, doch Abt Johannes merkte nichts davon, sondern dankte Absalon für sein gütiges Versprechen und sagte, die Blume wolle er ihm schon schicken.

Vielleicht hätte er dieses Versprechen nicht so leichtfertig gegeben, wenn er geahnt hätte, zu welchen Verwicklungen dieses dort droben im Walde führen würde.

***

Reise durch die Weihnachtszeit

Abt Johannes setzte seinen Willen durch. Am nächsten Weihnachtsabend saß er nicht daheim im Kloster von Öved, sondern war auf dem Weg nach Göinge. Einer der wilden Jungen der Räubermutter lief vor ihm her. Zum Geleit hatte der Abt sich den Laienbruder, der im Lustgarten mit der Räubermutter gesprochen hatte, gewählt.

Abt Johannes hatte sich den ganzen Herbst über schon sehr danach gesehnt, diese Fahrt anzutreten. Er freute sich sehr, dass diese zustande gekommen war. Ganz anders empfand der Laienbruder, der ihn begleitete. Dieser hatte den Abt von Herzen lieb und hätte es ungern jemand anderem überlassen, den Abt zu begleiten und über diesen zu wachen. Aber er glaubte keineswegs, dass sie einen Weihnachtsgarten zu Gesicht bekommen würden. Stattdessen dachte er, dass dies eine Falle sei, welche die Räubermutter mit großer Schlauheit um Abt Johannes gelegt hatte, damit dieser ihrem Räubermann in die Hände falle.

Auf seinem Ritt nordwärts zur Waldgegend sah Abt Johannes, wie überall Anstalten getroffen wurden, das Weihnachtsfest zu feiern. In jedem Bauerndorf machte man Feuer in der Badehütte, damit sie zum nachmittäglichen Bade vorbereitet sei. Aus den Vorratskammern wurden große Mengen an Fleisch und Brot in die Hütten getragen, und aus den Scheunen kamen die Burschen mit großen Strohgarben, die über den Boden gestreut werden sollten.

Als er an dem kleinen Dorfkirchlein vorüberritt, sah er, wie der Priester und seine Küster vollauf damit beschäftigt waren, die Kirche mit besten Geweben zu behängen, die sie nur hatten auftreiben können. Und als sie zu dem Wege kamen, der zum Kloster Bosjö führte, sah er die Armen des Klosters mit großen Brotlaiben und langen Kerzen, die sie an der Klosterpforte bekommen hatten, dahinwandern.

Wie der Abt alle diese Weihnachtsvorbereitungen sah, da spornte er zur Eile an. Denn er dachte daran, dass seiner ein größeres Fest harre, als irgendeiner hier feiern würde.

Doch der Laienbruder jammerte und klagte, als er sah, wie sie sich auch in der kleinsten Hütte anschickten, das Weihnachtsfest zu feiern. Und er wurde immer ängstlicher und beschwor Abt Johannes, doch umzukehren und sich nicht freiwillig in die Hand der Räuber zu begeben.

Aber Abt Johannes ritt unbeirrt weiter, ohne sich um die Klagen zu kümmern. Sie hatten bald das Flachland hinter sich und kamen nun hinauf in die einsamen, wilden Wälder. Hier wurde der Weg schlechter, bald war es nur noch ein steiniger, nadelbestreuter Pfad. Nicht Brücke noch Steg halfen mehr über Flüsse und Bäche. Je länger sie ritten, desto kälter wurde es. Tief drinnen im Walde war der Boden mit Schnee bedeckt.

Wald Schnee

Es war ein langer und beschwerlicher Ritt. Sie schnitten auf steilen und schlüpfrigen Seitenpfaden den Weg ab und zogen über Moor und Sumpf, drangen durch Windbrüche und Dickicht. Gerade als die Dämmerung aufzog, führte der Räuberjunge sie über eine Waldwiese, die von hohen Bäumen umgeben war. Es handelte sich um nackte Laubbäume mit riesigem Stammumfang und um vereinzelte grüne Nadelbäume. Hinter der Wiese erhob sich eine Felswand, und in der Felswand sahen sie eine Tür aus rohen Planken.

Felswand SchneeDa erkannte Abt Johannes, dass sie am Ziel waren. Er stieg vom Pferd. Das Kind öffnete die schwere Tür und der Abt sah in eine ärmliche Berggrotte mit nackten Steinwänden. Die Räubermutter saß an einem Blockfeuer, das mitten auf dem Boden brannte. An den Wänden standen Lagerstätten aus Tannenreisig und Moos. Auf einer von ihnen lag der Räubervater und schlief.

"Kommt herein, ihr dort draußen!", rief die Räubermutter, ohne aufzustehen. "Und nehmt die Pferde mit, damit sie nicht draußen in der Nachtkälte zugrunde gehen."

Abt Johannes trat kühn in die Grotte und der Laienbruder folgte ihm. Darinnen sah es gar ärmlich und dürftig aus. Nichts war geschehen, das Weihnachtsfest zu feiern. Die Räubermutter hatte weder gebraut, noch gebacken, weder gefegt noch gescheuert. Ihre Kinder lagen auf der Erde rings um einen Kessel, aus dem sie aßen. Mit einem Blick erkannte der Abt, dass darinnen nichts Besseres war als dünne Wassergrütze.

Doch die Räubermutter war ebenso stolz und selbstbewusst wie nur irgendeine wohlbestallte Bauersfrau. "Setze dich nur hier ans Feuer, Abt Johannes, und wärme dich", sagte sie, "und wenn du Wegzehrung mitgebracht hast, so iss. Das, was wir hier im Walde kochen, wird dir nicht munden. So du vom Ritt müde bist, kannst du dich auf eine unserer Lagerstätten ausstrecken und ruhen. Du brauchst keine Angst zu haben, dass du dich verschlafen könntest. Ich sitze hier am Feuer und wache und will dich schon wecken, damit du zu sehen bekommst, wonach du ausgeritten bist."

Abt Johannes gehorchte der Räubermutter in allen Stücken und nahm sein Bündel hervor. Aber er war nach dem langen Ritt so müde, dass er kaum zu essen vermochte; und sowie er sich auf dem Lager ausgestreckt hatte, schlummerte er ein.

Dem Laienbruder wurde auch eine Ruhestatt zugewiesen, doch er wagte es nicht, einzuschlafen, weil er ein wachsames Auge auf den Räubervater haben wollte. Doch auch ihn überkam die Müdigkeit von den Strapazen der Reise mit solcher Gewalt, dass er ebenfalls einschlummerte.

Das Wunder

Als er erwachte, sah er, dass Abt Johannes sein Lager verlassen hatte und jetzt am Feuer mit der Räubermutter Zwiesprache hielt. Der Räubervater hatte sich neben sie gesellt. Er war ein hochaufgeschossener magerer Mann und sah schwerfällig und trübsinnig aus. Er kehrte dem Abt den Rücken zu, ganz so, als wolle er nicht zeigen, dass er dem Gespräch zuhörte.

Abt Johannes erzählte der Räubermutter von all den Weihnachtsvorbereitungen, die er unterwegs gesehen hatte. Er erinnerte sie an all die Weihnachtsfeste und fröhlichen Weihnachtsspiele, die wohl auch sie in ihrer Jugend mitgemacht hätte. "Es ist ein Jammer, dass eure Kinder nie verkleidet auf der Dorfstraße umhertollen oder im Weihnachtsstroh spielen dürfen", sagte Abt Johannes.

Die Räubermutter hatte ihm zunächst kurz und barsch geantwortet, aber so allmählich wurde sie kleinlauter und lauschte eifrig.

Da wendete sich mit einem Mal der Räubervater gegen Abt Johannes und hielt ihm die geballte Faust vor das Gesicht. "Du elender Mönch, bist du hierhergekommen, um Weib und Kinder von mir fortzulocken? Weißt du nicht, dass ich ein vogelfreier Mann bin und diesen Wald nicht verlassen darf?"

Abt Johannes sah ihm unerschrocken in die Augen. "Mein Wille ist es, dir einen Freibrief vom Erzbischof zu verschaffen", sagte er. Kaum hatte er dies ausgesprochen als der Räubervater und die Räubermutter in schallendes Gelächter ausbrachen. Sie wussten nur zu wohl, welche Gnade ein Waldräuber von Bischof Absalon zu erwarten hatte.

"Ja, wenn ich einen Freibrief vom Absalon bekomme", sagte der Räubervater, "dann gelobe ich dir, nie mehr auch nur so viel wie eine Gans zu stehlen."

Dem Laienbruder verdross es sehr, dass das Räuberpack sich erdreistete, seinen Abt auszulachen. Obwohl dieser selbst ganz zufrieden schien. Der Gehilfe hatte ihn kaum je friedvoller und milder unter seinen Mönchen auf Kloster Öved sitzen sehen, als wie er ihn jetzt unter den wilden Räuberleuten sah.

Plötzlich sprang die Räubermutter auf. "Du sitzt hier und plauderst, Abt Johannes", sagte sie, "und wir vergessen ganz, nach dem Walde zu sehen. Jetzt höre ich bis in unsere Höhle, wie die Weihnachtsglocken läuten."

Kaum war dies gesagt, als alle aufsprangen und hinausliefen; doch im Walde war es noch dunkle Nacht und grimmiger Winter. Das Einzige, was man vernahm, war ferner Glockenklang, der von einem leisen Südwind hergetragen wurde.

Wie soll dieser Glockenklang den toten Wald wecken?, dachte Abt Johannes bei sich. Denn auf einmal, wo er sich mitten im Waldesdunkel gewahrte, schien es ihm viel unmöglicher als zu Beginn seiner Reise, dass hier ein wunderlicher Lustgarten entstehen könne. War er im Alter zu leichtgläubig geworden?

Aber als die Glocke ein paar Augenblicke geläutet hatte, zuckte plötzlich ein Lichtstrahl durch den Wald. Gleich darauf wurde es dunkel wie zuvor, doch dann kam das Licht wieder. Es kämpfte sich wie ein leuchtender Nebel zwischen den Bäumen hindurch. Es vermochte die tiefe Dunkelheit in schwache Morgendämmerung zu verwandeln.

Da sah Abt Johannes, wie um ihn herum der Schnee vom Boden verschwand, als hätte jemand einen Teppich fortgezogen. Die Erde begann zu grünen. Das Farnkraut streckte seine Triebe hervor, eingerollt wie Bischofstäbe. Die Erika, die aus der Steinhalde wuchs, und der Porsch, der im Moor wurzelte, kleideten sich in Windeseile in frisches Grün. Die Mooshügelchen schwollen und hoben sich, und die Frühlingsblumen schossen mit schwellenden Knospen auf, die sofort einen Schimmer von Farbe hatten.

Abt Johannes klopfte das Herz heftig, als er die ersten Zeichen sah, dass der Wald erwachen wollte. Soll nun ich alter Mann ein solches Wunder schauen?, dachte er. Und die Tränen wollten ihm in die Augen treten.

Nun wurde es wieder so dämmrig, dass er fürchtete, die nächtliche Finsternis könnte aufs Neue Macht erlangen. Aber sogleich kam eine neue Lichtwelle hereingebrochen. Diese brachte das Murmeln von Bächlein und das Rauschen der eisbefreiten Bergströme mit sich. Da schlugen die Blätter der Laubbäume so rasch aus, als wären grüne Schmetterlinge herangeflattert und hätten sich auf den Zweigen niedergelassen.

Nicht nur die Bäume und Pflanzen erwachten. Die Kreuzschnäbel begannen über die Zweige zu hüpfen. Die Spechte hämmerten an die Stämme, dass die Holzsplitter nur so flogen. Ein Zug Stare, der das Land hinanflog, ließ sich in einem Tannenwipfel nieder, um zu ruhen. Es waren prächtige Stare. Die Spitze jeden noch so kleinen Federchens leuchtete glänzend rot. Wenn die Vögel sich bewegten, glitzerten sie wie Edelsteine.

Wieder wurde es für ein Weilchen still.

Dann begann es von Neuem. Ein starker, warmer Südwind blies und säte über die Waldwiese alle die Samen aus südlichen Ländern, die von Vögeln und Schiffen und Winden in das Land gebracht worden waren, doch bisher auf seinem kargen Boden nirgend anders blühen konnten. Hier und jetzt schlugen sie Wurzeln und schossen Triebe im selben Augenblick, da sie den Boden berührten.

Mit der nächsten Welle fingen Blaubeeren und Preiselbeeren zu blühen an. Wildgänse und Kraniche riefen hoch oben in der Luft, Buchfinken bauten ein Nest und Eichhörnchen tollten die Zweige entlang.

Alles ging nun so rasch, dass Abt Johannes gar nicht die Zeit hatte, zu überlegen, welches Wunder gerade geschah. Er hatte nur Zeit, Augen und Ohren weit aufzumachen.

Die nächste Welle, die herangebraust kam, brachte den Duft frischgepflügter Felder mit sich herbei. Aus weiter Ferne hörte man etwas, dass wie Glöckchen von Lämmern klingelte. Tannen und Fichten bekleideten sich so dicht mit kleinen roten Zapfen, dass die Bäume wie Seide leuchteten. Der Wacholder trug Beeren, die jeden Augenblick die Farbe wechselten. Waldblumen bedeckten den Boden, dass er ganz weiß und blau und gelb war.

Abt Johannes beugte sich langsam zu Boden und brach eine Erdbeerblüte. Während er sich aufrichtete, reifte die Beere.

Eine Füchsin kam aus ihrer Höhle mit einer großen Schar von schwarzbeinigen Jungen hinter sich her. Sie ging auf die Räubermutter zu und rieb sich an ihrem Rock. Die Räubermutter beugte sich zu ihr hinunter und lobte ihre Jungen.

Der Uhu, der eben seine nächtliche Jagd begonnen hatte, kehrte wieder nach Hause zurück, ganz erstaunt über das Licht suchte er seine Schlucht auf und legte sich schlafen. Der Kuckuck rief und das Kuckucksweibchen umkreiste mit einem Ei im Schnabel die Nester der Singvögel.

Die Kinder der Räubermutter stießen zwitschernde Freudenschreie aus. Sie aßen sich an den Waldbeeren satt, die groß wie Tannenzapfen an den Sträuchern hingen. Eines von ihnen spielte mit einer Schar junger Hasen, ein andres lief mit den jungen Krähen um die Wette, die aus dem Nest gehüpft waren, ehe sie noch flügge waren. Das Dritte hob die Natter vom Boden und wickelte sie sich um Hals und Arm.

Der Räubervater stand draußen auf dem Moor und aß Brombeeren. Als er aufsah, trat ein großes schwarzes Tier neben ihm einher. Da brach der Räubervater einen Weidenzweig und schlug dem Bären auf die Schnauze. "Bleib du, wo du hingehörst", sagte er. "Das ist mein Platz." Da machte der Bär kehrt und trabte nach seiner Seite fort.

Immer wieder kamen neue Wellen von Wärme und Licht. Sie brachten Entengeschnatter aus dem Waldmoor und gelben Blütenstaub von den Feldern mit sich. Schmetterlinge kamen, so groß wie fliegende Lilien. Der Bau der Bienen in einer hohlen Eiche quoll über vor Honig, so dass er am Stamm heruntertropfte.

Christrose

Jetzt entfalteten sich auch die Blumen, deren Samen aus fernen Ländern herübergeweht gekommen war. Rosenbüsche kletterten um die Wette mit den Brombeeren die Felswände hinauf. Auf der Wiese sprossen Blumen, deren Blüten so groß waren wie ein Menschengesicht.

Abt Johannes dachte an die Blume, die er für Bischof Absalon pflücken wollte, aber eine Blume wuchs herrlicher heran als die andre, und er wollte die Allerschönste wählen.

Weitere Welle um Welle kam und jetzt war die Luft so von Licht durchtränkt, dass sie glitzerte. Und alle Lust und aller Glanz und alles Glück eines Sommers lächelten rings um den Abt. Es war ihm, als könnte die Erde keine größere Freude bringen, und er sagte zu sich selbst: "Jetzt weiß ich nicht, was die nächste Welle, die kommt, noch an Herrlichkeit bringen kann."

Aber das Licht strömte noch immer zu und jetzt war es Abt Johannes so, als dass es etwas aus unendlicher Ferne mit sich brächte. Er fühlte, wie überirdische Luft ihn umwehte und er begann, zitternd zu erwarten, es würde nun, nachdem die Freude der Erde gekommen war, des Himmels Herrlichkeit anbrechen.

Der Abt bemerkte, wie alles still wurde: Die Vögel verstummten, die jungen Füchslein spielten nicht mehr und die Blumen ließen ab, zu wachsen. Die Seligkeit, die nahte, war von der Art, dass einem das Herz stillstehen wollte; das Auge weinte, ohne dass es darum wusste. Die Seele sehnte sich danach, in die Ewigkeit hinüber zu fliegen.

Aus weiter, weiter Ferne hörte man leise Harfentöne und überirdischen Gesang. Abt Johannes faltete die Hände und sank in die Knie. Sein Gesicht strahlte vor Seligkeit. Nie hatte er erwartet, dass es ihm beschieden sein würde, schon in diesem Leben des Himmels Wonne zu kosten und die Engel Weihnachtslieder singen zu hören.

Doch es sollte anders kommen.

Neben Abt Johannes stand immer noch der Laienbruder. Er sah ebenfalls den Räuberwald voll Grün und Blumen, doch er wurde zornig in seinem Herzen, weil ihm gewahr wurde, dass er einen solchen Lustgarten nie und nimmer schaffen könnte, wie sehr er sich auch mit Hacke und Spaten abmühen würde. Und er vermochte nicht zu begreifen, warum Gott solche Herrlichkeit an das Räubergesindel verschwendet, das seine Gebote missachtet.

Gar dunkle Gedanken zogen durch seinen Kopf. "Das kann kein gutes Wunder sein", dachte er, "dass sich solch bösen Missetätern zeigt. Das kann nicht von Gott stammen, das ist aus böser Zauberei entsprungen. Es ist von des Teufels arger List hierher gesandt. Es ist die Macht des bösen Feindes, die uns verhext und uns zwingt, das zu sehen, was nicht ist."

In der Ferne hörte man nun Engelsharfen klingen. Engelsgesang ertönte, aber der Laienbruder glaubte nach wie vor, dass es die böse Macht der Unholde sei, die da sich näherte. "Sie wollen uns verlocken und verführen", seufzte er, "nie kommen wir mit heiler Haut davon. Wir werden betört und dem Abgrund der Hölle verkauft."

Jetzt waren die Engelscharen so nahe, dass Abt Johannes ihre Lichtgestalten zwischen den Stämmen des Waldes schimmern sah. Und der Laienbruder sah dasselbe wie er. Doch dieser dachte nur, welche Arglist darin läge, dass die bösen Geister ihre Künste gerade in der Nacht betrieben, in welcher der Heiland geboren war. Dies geschah vermutlich nur, um einen Christen umso sicherer ins Verderben zu stürzen.

Mittlerweile schwärmten Vögel um Abt Johannes Haupt. Er konnte sogar eines zwischen seine Hände nehmen. Doch den Laienbruder fürchteten die Tiere. Kein Vogel setzte sich auf dessen Schulter, keine Schlange hatte zu seinen Füßen gespielt.

Nun war da eine kleine Waldtaube. Als diese merkte, dass die Engel nahe waren, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und flog dem Laienbruder auf die Schulter. Sie schmiegte ihr Köpfchen an seine Wange.

Da vermeinte der Laienbruder, dass der böse Zauber ihm nun völlig auf den Leib rücke, ihn in Versuchung zu führen und zu verderben. Er schlug mit der Hand nach der Waldtaube und rief mit lauter Stimme, so dass es durch den gesamten Wald hallte:

"Zurück in die Hölle, von wo du gekommen bist!"

Mit einem Mal wurde es völlig still im Wald.

Gerade waren die Engel schon so nahe, dass Abt Johannes den Hauch ihrer mächtigen Fittiche fühlte und er hatte sich zur Erde geneigt, sie zu begrüßen. Aber als die Worte des Laienbruders ertönten, da verstummte urplötzlich deren Gesang.

Die heiligen Gäste wendeten sich zur Flucht. Ebenso flohen das Licht und die milde Wärme in unsäglichem Schreck vor der Kälte und der Finsternis in einem Menschenherzen. Dunkelheit sank auf die Erde hinab wie eine Decke, die Kälte kam, Pflanzen schrumpften auf dem Boden zusammen, die Tiere enteilten, das Rauschen der Wasserfälle verstummte, Laub fiel von den Bäumen, prasselnd wie Regen.

Abt Johannes fühlte, wie sein Herz, das eben vor Seligkeit gezittert hatte, sich jetzt in unsäglichem Schmerz zusammenkrampfte. Niemals kann ich dies überleben, dachte er, dass die Engel des Himmels so nahe waren und vertrieben wurden. Dass sie mir Weihnachtslieder singen wollten, doch stattdessen in die Flucht geschlagen wurden.

In demselben Augenblick entsann er sich der Blume, die er Bischof Absalon versprochen hatte. Er beugte sich zur Erde und tastete unter Moos und Laub, um noch im letzten Augenblick etwas zu finden. Aber er fühlte, wie die Erde unter seinen Fingern gefror und wie der weiße Schnee über den Boden geglitten kam.

Da ward sein Herzeleid noch größer. Er konnte sich nicht erheben, sondern musste auf dem Boden liegen bleiben.

Aber als die Räubersleute und der Laienbruder sich in der tiefen Dunkelheit zur Räuberhöhle zurückgetappt hatten, da vermissten sie Abt Johannes. Sie nahmen glühende Scheite aus dem Feuer und zogen aus, ihn zu suchen. Sie fanden ihn tot auf der Schneedecke liegen.

Und der Laienbruder hub an zu weinen und zu klagen, denn er erkannte, dass er es war, der Abt Johannes getötet hatte, weil er ihm den Freudenbecher entrissen, nachdem er gelechzt hatte.

***

Reue und Erfüllung

Mönch wartendAls Abt Johannes nach Öved hinuntergebracht worden war, sahen die, die sich des Toten annahmen, dass er seine rechte Hand hart um etwas geschlossen hielt, was er in seiner Todesstunde umklammert haben musste. Und als sie die Hand endlich öffnen konnten, fanden sie, dass das, was er mit solcher Stärke festhielt, ein paar weiße Wurzelknollen waren, die er aus Moos und Laub hervorgerissen hatte. Als der Laienbruder diese Wurzeln sah, nahm er sie und pflanzte sie in des Abtes Garten in die Erde.

Er pflegte die Erde drum herum, goss den ganzen Frühling, Sommer und Herbst Wasser über die Knolle in der Erde und wartete das ganze Jahr, dass eine Blume daraus erblühe.

Vergebens.

Als endlich der Winter anbrach und alle Blätter und Blumen tot waren, hörte er auf zu warten. Er wendete sich anderen Pflichten zu. Als aber der Weihnachtsabend kam und der Todestag des Abtes sich jährte, überkam den Laienbruder die Erinnerung an Abt Johannes so mächtig, dass er in den Lustgarten des Klosters hinausging, diesem zu gedenken.

Und siehe, wie er nun an der Stelle vorbeikam, wo er die kahlen Wurzelknollen eingepflanzt hatte, da sah er, dass üppige grüne Stängel daraus emporgesprossen waren, die schönen Blumen silberweiße Blätter trugen.

Da rief er alle Mönche von Öved zusammen; als sie sahen, dass diese Pflanze am Weihnachtsabend blühte, wo alle anderen Blumen tot waren, da erkannten sie, dass sie wirklich von Abt Johannes aus dem Weihnachtslustgarten im Göinger Wald gepflückt worden sein musste.

Der Laienbruder sagte den Mönchen, nun da ein so großes Wunder geschehen sei, sollten sie einige von den Blumen dem Bischof Absalon schicken.

So geschah es dann auch. Als der Laienbruder vor den Bischof hintrat, reichte er ihm die Blumen und sagte: "Dies schickt dir Abt Johannes. Es sind die Blumen, die er dir aus dem Weihnachtslustgarten im Göinger Wald zu pflücken versprochen hatte."

Als Bischof Absalon die Blumen sah, die in dunkler Winternacht der Erde entsprossen waren, und als er die Worte hörte, wurde er so bleich, als wäre er einem Toten begegnet. Eine Weile saß er schweigend da, dann sagte er: "Abt Johannes hat sein Wort gut gehalten; so will auch ich das meine halten." Und er ließ einen Freibrief für den wilden Räuber ausstellen, der von Jugend an friedlos im Wald gelebt hatte.

Er übergab dem Laienbruder den Brief und dieser zog damit von dannen, hinauf in den Wald und auf den Weg zur Räuberhöhle. Als er am Weihnachtstage dort eintraf, da eilte ihm der Räuber mit erhobener Axt entgegen: "Ich will euch Mönche niederschlagen, so viele euer auch sind", rief er. "Sicherlich hat sich um euretwillen der Göinger Wald in dieser Nacht nicht in sein Weihnachtskleid gehüllt."

"Es ist einzig und allein meine Schuld", sagte der Laienbruder, "und ich will gerne dafür sterben. Aber zuerst muss ich dir eine Botschaft von Abt Johannes bringen." Und er zog den Brief des Bischofs heraus und verkündete ihm, dass er nicht mehr vogelfrei sei, und zeigte ihm das Siegel Absalons, das an dem Pergament hing. "Fortan sollst du mit deinen Kindern im Weihnachtsstroh spielen und ihr sollt das Christfest unter dem Weihnachtsbaum feiern, wie es der Wunsch des Abtes Johannes war", sagte er.

Da blieb der Räubervater stumm und bleich stehen, aber die Räubermutter sagte in seinem Namen: "Abt Johannes hat sein Wort getreulich gehalten, so wird der Räubervater das seine halten."

***

Doch als der Räubervater und die Räubermutter aus der Räuberhöhle fortzogen, da zog der Laienbruder hinein und hauste einsam im Wald unter unablässigem Gebet, dass sein hartes Herz ihm verziehen werde.

Und niemand darf ein strenges Wort über einen sagen, der bereut und sich bekehrt hat, wohl aber kann man wünschen, dass seine bösen Worte ungesagt geblieben wären. Denn nie mehr hat der Göinger Wald die Geburtsstunde des Heilands gefeiert. Von seiner ganzen Herrlichkeit lebt nur noch die Pflanze, die Abt Johannes dereinst der Erde in seinem Todeskampf entrissen hatte.

Man hat sie Christrose genannt, und jedes Jahr lässt sie ihre weißen Blüten und ihre grünen Stängel um die Weihnachtszeit aus dem Erdreich sprießen, als könnte sie nie und nimmer vergessen, dass sie einmal in dem großen Weihnachtslustgarten gewachsen ist.

Wissenswertes und Hintergrund

Selma Lagerlof (1908), painted by Carl Larsson

Die Schriftstellerin

Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (* 20. November 1858 auf Gut Mårbacka in der heutigen Gemeinde Sunne, Värmland, Schweden; † 16. März 1940 ebenda) war eine schwedische Schriftstellerin. Sie ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes und gehört zu den schwedischen Autoren, deren Werke zur Weltliteratur zählen. 1909 erhielt sie als erste Frau den Nobelpreis für Literatur und wurde 1914 als erste Frau in die Schwedische Akademie aufgenommen. Sie verfasste religiöse, fantasievolle und heimatverbundene Werke sowie Kinderbücher. Ein sehr bekanntes Werk Lagerlöfs ist "Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen", das sie 1906 schrieb. Weiter auf Wikipedia

Auf eine Christrose

Eduard Mörike

Tochter des Waldes, du Lilienverwandte,
so lang von mir gesucht, unbekannte,
im fremden Kirchhof, öd und winterlich,
zum erstenmal, o schöne, find ich Dich!

Von welcher Hand gepflegt du hier erblühtest,
ich weiß es nicht, noch wessen Grab du hütest,
ist es ein Jüngling, so geschah ihm Heil,
ist es eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.

Schön bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne,
die wäre tödlich - andrer Blume Wonne,
dich nährt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
himmlischer Kälte balsamsüßer Luft.

In deines Busens goldner Fülle gründet
ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkündet,
so duftete, berührt von Engelshand,
der benedeiten Mutter Brautgewand.

Dich würden, mahnend an das heilge Leiden,
fünf Purpurtropfen schön und einzig kleiden,
doch kindlich zierst du um die Weihnachtszeit,
lichtgrün mit einem Hauch dein weißes Kleid.

Der Elfe, der in mitternächtger Stunde
zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
vor deiner mystischen Glorie steht er scheu,
neugierig still von fern und huscht vorbei.

Im Winterboden schläft ein Blumenkeim,
der Schmetterling, der einst um Busch und Hügel
in Frühlingsnächten wiegt den samtnen Flügel;
nie soll er kosen deinen Honigseim.

Wer aber weiß, ob nicht sein zarter Geist,
wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
dereinst von deinem leisen Dufte trunken,
mir unsichtbar, die blühende umkreist

Christrose

Die Blume

Die Schneerose, Christrose oder Weihnachtsrose ist eine Pflanzenart der Gattung Nieswurz. Die Blume mit den auffallend großen, weißen Blüten ist vor allem durch ihre frühe Blütezeit bekannt. Hauptblütezeit ist von Februar bis April, sie kann jedoch je nach Schnee- und Höhenlage auch schon im November beginnen bzw. im Mai enden.

In der Volksmedizin findet die Schneerose noch heute als Brech- und Abführmittel sowie gegen Wassersucht und Harnverhalt Verwendung. Bei Tieren wurde die Pflanze in England des 17. Jahrhunderts als Mittel gegen Husten und Vergiftung eingesetzt. Dazu stach man dem betreffenden Tier ein Loch ins Ohr, durch das einen Tag und eine Nacht lang ein Stück Christrosenwurzel gesteckt wurde.

Das Pulver der Wurzel wurde früher als Niespulver verwendet und war Bestandteil des Schneeberger Schnupftabaks.

Hier lag Kloster Öved, Provinz Schonen, Schweden (damals Dänemark)

Das Kloster Öved

Das Kloster Öved in der Provinz Schonen, die zur Zeit der Geschichte zu Dänemark gehörte, gibt es nicht mehr. An dieser Stelle steht heute Schloss Övedskloster, in dessen Namen die Erinnerung an das ehemalige Prämonstratenserkloster erhalten geblieben ist. Jenes Schloss spielt auch eine Rolle im dritten Kapitel der "Wunderbaren Reises des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen".

Geschrieben von

Peter Bödeker
Peter Bödeker

Peter hat Volkswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit seinem Berufseinstieg im Bereich Internet und Publizistik. Nach seiner Tätigkeit im Agenturbereich und im Finanzsektor ist er seit 2002 selbständig als Autor und Betreiber von Internetseiten. Als Vater von drei Kindern treibt er in seiner Freizeit gerne Sport, meditiert und geht seiner Leidenschaft für spannende Bücher und ebensolche Filme nach.

https://www.blueprints.de

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